SENSATIONS
CLOSER TO THE PEOPLE

Karolina Jabłońska Luisa Kasalicky Tomasz Kręcicki Hermes Payrhuber und im Shower Room: Mario Kiesenhofer
kuratiert von Siggi Hofer

5. Oktober 2019 - 3. November 2019

Kunstkritik: artmagazine

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© Michael Strasser / Kunstverein Schattendorf

und im shower room

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© Mario Kiesenhofer

In der allerletzten Stunde der „Daily Show“: Ein älteres Paar betritt den Ausstellungsraum und bittet um Erklärung. Er noch schnell ins Auto zurück, um seine Brille zu holen. Sie schon vertieft. Sie haben Fragen. Durch Nicken signalisieren sie Verständnis. Weitere Fragen folgen, und sie signalisieren erneut Verständnis. Wieder durch Nicken und mit weit geöffneten Augen. Dann, als zu allen Arbeiten Fragen beantwortet sind, ein Seufzen ihrerseits und ein Blick in Richtung ihres Mannes, um mir und ihm zu signalisieren – sie spricht auch für ihn, wenn sie mit großer Sehnsucht in der Stimme wie ein Geständnis sagt: „Eigentlich haben wir uns schöne Gemälde erhofft.“ Der Satz ist eindringlich und klingt auch ein wenig nach Entschuldigung. Eine Entschuldigung dafür, Gedachtes ausgesprochen zu haben. Er nickt zustimmend, und beide lächeln. Ich verharre und seufze doch auch. Punktgenau in dieser Sekunde passiert etwas in meinem Gehirn – man würde es wohl Geistesblitz nennen –, das war der Anfang vom prächtigen Ende.
SENSATIONS / CLOSER TO THE PEOPLE

Dann fährt die Frau fort, breitet Geschichten der Erinnerung aus. Haben sie doch genau hier in diesem Raum gefeiert, getrunken und getanzt.

Beeindruckt rattert es weiter in meinem Kopf, und die Vorbereitungen zur aktuellen Ausstellung konkretisieren sich mit jeder Minute und mit jedem Bild, das durch die Erzählungen erzeugt wird. Ein Song von Tanita Tikaram schießt mir in den Kopf: „Closer to the People“. Wir werden euch Gemälde bringen, denke ich mir, und es geht mir eine Szene aus Weill/Brechts „Happy End“ durch den Kopf, wo es heißt: „Auf dem Tanzboden wuchs das Gras“, wo es außerdem heißt: „Joe, mach das Lied von damals nach“, und schließlich: „Da wurde was geboten für sein Geld!“

Wir schließen uns zusammen und bieten Sensationen, um dem Volk, den Menschen näherzukommen, damit sie von uns eingenommen sein können, wenn es auch keine wirkliche Integration geben kann. Jede Ausstellung ist ein Experiment, und eigentlich ist es mit einer Ausstellung nie getan. Eigentlich ist das nur der Anfang, und es müssten Teil 2, Teil 3 und viele folgen. Bis sich das Experiment endgültig erschöpft oder keine Hoffnung mehr besteht.

Für diese Ausstellung schaben wir die Farbe von der großen Wand im ehemaligen Tanzsaal, als würden wir darunter Aufschluss über Fragen der Vergangenheit erwarten, und schaffen so einen prächtigen Teppich für Karolina Jabłońskas leuchtende Bilder. Karolina zeigt große Gemälde, die ein Blick in die Vergangenheit sein könnten. Szenen, die eben hier stattfinden hätten können, aber auch gleichermaßen in der Zukunft oder parallel woanders. Hier wird umarmt, gekämpft und applaudiert. Man tritt, reißt sich an den Haaren, und vor allem kullern glasklare Tränen über das ganze Gesicht, durchnässen die Kleidung. Tränen sind dort, wo noch Hoffnung ist. Und der Schrei geht durch Mark und Bein, wenn er stumm ist. Man kommt sich und einander näher, und niemand hat gesagt, dass das schmerzfrei sein muss. Und niemand hat gesagt, dass Schmerzen nicht auch lustvoll sein können. Falls das ältere Paar hier wieder hereinschneien sollte, werden sie sich womöglich an ihre eigene Geschichte erinnert fühlen. An ihre Geschichte, die sich genau hier zugetragen hat. Sie sehen Bilder, die sich in vielen Momenten mit ihrer Erinnerung decken. Diese Farben! Alles, als wäre es gestern gewesen.

Hermes Payrhuber lebt in New York, und wir kommunizieren mit Messenger, Instagram, WhatsApp und E-Mail. Immer wenn mir ein von ihm geschriebener Satz wieder einfiel, konnte ich ihn letztendlich nicht mehr finden, und ich wusste nicht, ob er ihn wirklich jemals geschrieben hatte. Ich wollte eigentlich eine inhaltliche Diskussion führen. Er betonte aber – diese Stelle kann ich wie gesagt nicht mehr finden –, dass es doch immer um das Sehen gehe. Warum er seine lapidaren und gleichsam würdevollen Skulpturen nicht auf gebauten Sockeln, sondern auf Kühltruhen thronen sehen will, begründete er dann auch folgerichtig genau mit diesem Argument: „Es geht um das Daraufschauen oder Emporsehen. Kunst ist doch immer auch und hauptsächlich Sehen.“ Nun wird sie zu einem spannenden Moment und wirklich auch zur Sensation. Denn wenn man sich das so vorstellen will, sind seine Skulpturen samt Sockel direkt über den großen Ozean bis hierher geflogen gekommen, um genau hier in diesem Tanzsaal, der heute ein Ausstellungsraum ist, zu landen. Im Inneren der Truhen stelle ich mir Motoren vor. Aber dann, nach einiger Zeit, sind es doch die Skulpturen, die autonom sind, und es geht natürlich um das Sehen und natürlich auch um das Nichtsehen. Und um das Verstehen, welches das Hinterfragen überflüssig macht. Jemand nannte sie Denkmäler, Säulen. Hermes Payrhuber benennt sie nach Pilzarten.

Dann ist erst einmal Stille. Aber während wir die Kühltruhen in den Raum schleifen und die Bilder von der Noppenfolie befreien, wächst Luisa Kasalickys Installation von der Wand in den Raum. Als öffnete sie einen Tresor oder eine Truhe oder die Türe zu einem Lager, der, die, das voller Dinge ist. Herausgeholt und hierher gebracht wachsen sie irgendwie zusammen, passen zueinander, aber gleichzeitig auch nicht. Magnetisch angezogen, aus harmonischen Ensembles gerissen, aus der Vergangenheit mit Gummizügen gezogen, um sie nach der Ausstellung wieder zurückschnalzen zu lassen. Sie verschmelzen und fallen wieder auseinander. Protzige Schmuckstücke, die wunderschön für diejenigen sind, die etwas damit verbinden. Ganz genau lassen sich der Ursprung oder der Weg nicht mehr nachvollziehen. Ich denke darüber nach, wie Luisa ihre Versatzstücke findet und wen sie dort womöglich trifft. Wie sie die gefundenen und gekauften Dinge verwendet und was wohl andere mit den haargenau gleichen Dingen anstellen. ...Die Sensation als Ereignis, auf das vielleicht monatelang hingearbeitet wird – eine Vorbereitung für den intensivsten Moment. Sich plötzlich bildende Synergien scheinen im Chor Chuzpes zu sprechen: „Die guten Kräfte sammeln sich, wo kommen die bloß her?“ 1

Die Wand ist abgeschabt, und die Bilder sind an ihr aufgehängt. Die weißen Kühltruhen sind positioniert, auf Hochglanz poliert, und die Sockenskulpturen mit höchstmöglicher Ehrfurcht behutsam draufgesetzt. Das schwarze Rechteck am Boden, das von der letzten Ausstellung übriggeblieben ist, wurde weiß gestrichen und so eine kleine, unerlaubte, nicht autorisierte Erweiterung von Hermesʼ Arbeit vorgenommen. Wir haben Luisa unterstützt und sie auch in Ruhe gelassen und sie schließlich ganz zurückgelassen und sie so ihren eigenen Fantasien und Dingen ausgeliefert.

Irgendwo im Raum erscheint eine Hand. Direkt von der Website von Tomasz Kręcicki gefischt und dann auf unsere Bühne gehoben. Sie ist statisch, aber genauso gut könnte sie immerzu ihre Finger bewegen. Es scheint, als müsse sie hier oben etwas leisten müssen, eine bestimmte Aufgabe erfüllen. Sie wurde sozusagen verpflichtet oder macht hier und jetzt einen Job und immer im Dienste der Zuseher*innen. Es ist eine freundliche Hand. Sie ist im Hier und Jetzt, gibt nichts preis. Jegliche Recherchen ob ihrer Herkunft würden wahrscheinlich ins Leere laufen. So wie die projizierten Bilder ohne sie ins Leere laufen, in der Leere verpuffen würden. Sie wären zwar da, aber unbemerkt, und würden deshalb ungelesen durch den Raum schweben. Aber so, durch das geniale Zusammenspiel, spricht sie. Schreibt Botschaften, Dinge wie Buchstaben und Buchstaben wie Dinge. Und das Geräusch dabei ist so verführerisch, weil wir es lange nicht mehr gehört haben und doch so gut kennen. Es bringt unsere Gedanken da und dort hin und weckt auch für dieses ältere Paar wieder nichts als Erinnerungen, die wieder genau auf diesen Ort verweisen. Hier vor x Jahren.

In diesem Rhythmus wandert unser Blick weiter. Eigentlich hätten wir jetzt alles gehabt und alles gesehen. Doch es gibt noch einen unentdeckten Raum, den Mario Kiesenhofer durch reduzierte Inszenierung vom Raum zu einer Rauminstallation verwandelt. Die vielleicht nur heute und jetzt zu besichtigen ist und dann eventuell nicht existent gewesen sein wird. Ein Raum, bestehend aus einem Raster (welches sich, wenn es sich verschiebt, auch verschwinden könnte und deshalb festgehalten werden muss), in dem dieses und jenes temporär stattgefunden hat. War dieser Raum doch schon ein Duschraum, ein Schlachtraum für Schweine. Mario legt Spuren, er verlinkt die vorgefundene Situation mit ähnlichen Räumen an anderen Orten, die zugegeben in eher größeren Städten zu finden sind. Die Verknüpfung dieser speziellen Orte und ihrer jeweiligen Funktionen verlegt den Fokus letztendlich doch wieder auf sie selbst. Grand Opening! Der neue Raum. Auch wenn man einige Stufen hinabsteigen muss. Es gibt diese Geschichten, die man erzählen muss, weil sie nicht mehr spürbar sind. Weil alles abwaschbar war und weggewaschen wurde. So, wie wenn man mit einem Schlauch durchgeht und Fußböden sowie Wände gründlich mit dem Hochdruckreiniger abspritzt. Kein Blut, kein Dreck, Nichts. Höchstens noch der Widerhall des durch die Architektur Erzählten und die Spiegelungen, die uns involvieren, aber doch nur mit offenen Fragen zurücklassen.

Trotzdem wollen wir um die Ecke schauen. Wenn auch ängstlich und aufgeregt.

Text: Siggi Hofer


1 Luisa Kasalicky